Experteninterviews
Interview mit Gisele Schön: Effektive Therapieansätze, psychosoziale Aspekte und wertvolle Tipps bei Inkontinenz
Inkontinenz führt bei vielen Betroffenen zu einem enormen Leidensdruck, der das soziale Leben deutlich einschränkt. Um aus dem Gedankenkarussell aus Scham, Ängsten und Sorgen – bis hin zur Depression – herauszufinden, ist es grundlegend, sich professionell beraten zu lassen – für den Erhalt einer unbeschwerten Lebensqualität und der Würde.
1. Frau Schön, Sie haben sich über viele Jahre hinweg intensiv mit dem Thema Inkontinenz beschäftigt und mehrere Bücher dazu veröffentlicht. Welche persönliche oder berufliche Erfahrung hat Sie dazu bewogen, sich so engagiert für dieses Thema einzusetzen?
Inkontinenz ist nicht nur ein wesentlicher Grund für Pflegebedürftigkeit, sondern geht darüber hinaus Hand in Hand mit einer starken Beeinträchtigung der Lebensqualität, von Alltagsaktivitäten und sozialen Kontakten sowie mit psychischen Belastungen durch Scham- und Minderwertigkeitsgefühle. Anders gesagt: Inkontinenz kann hilflos, ängstlich und einsam machen.
Es gibt aber eine gute Nachricht: Jede Form der Blasenschwäche wird durch Beratung und eine anschließend durchgeführte gezielte Therapie verbessert! In manchen Fällen ist sie auch komplett heilbar! Auch bei Darmproblemen (vom Stuhlverlust bis zur Verstopfung) wird durch kompetente Beratung die Lebensqualität wieder wesentlich verbessert. Es lohnt sich also immer, professionelle Hilfe aufzusuchen!
2. In Ihrem Buch „Inkontinenz – Ein mutmachender Ratgeber für Betroffene, Angehörige und Pflegende“ gehen Sie auf verschiedene Aspekte der Kondition ein. Welche Informationen und Ratschläge sind Ihnen besonders wichtig, um sie Betroffenen und deren Angehörigen zu vermitteln?
Blasenschwäche ist nicht gleich Blasenschwäche! Es gibt verschiedene Formen des unfreiwilligen Harnverlusts, wobei jede Form eine andere Ursache hat und eine andere Therapiemaßnahme erfordert. Auch bei Stuhlverlust ist es wichtig, Ursachen und Therapieformen zu unterscheiden.
3. Als ehemalige Leiterin der Beratungsstellen für Kontinenz des Fonds Soziales Wien haben Sie einer Vielzahl an Menschen zur Seite gestanden. Welche häufigsten Fragen oder Anliegen wurden geäußert und wie haben sich diese im Laufe der Jahre verändert?
Immer wieder werden Betroffene von Schuldgefühlen geplagt. Sie begehen mit dem ungewollten Harn und/oder Stuhlverlust aus ihrer Sicht eine gesellschaftliche Normverletzung. Das Selbstwertgefühl sinkt und ständig begleitet sie die Furcht, dass jemand auf ihr Problem aufmerksam werden könnte. Hinzu kommt eine Fülle an Ängsten – zum Beispiel davor, die Kontrolle komplett zu verlieren, anderen zur Last zu fallen oder Ablehnung und Ekel bei anderen Menschen auszulösen.
Wenn in dieser Phase niemand da ist, der die Betroffenen unterstützt und mit ihnen über ihre Situation spricht, ist der nächste Schritt zu Resignation, Hilflosigkeit, Hoffnungslosigkeit, Depression und gesellschaftlichem Rückzug nicht mehr weit.
Ich habe sehr viele an Inkontinenz Leidende erlebt, bei denen all dies in Ärger, Wut, Zorn und Auflehnung gegen sich selbst bzw. auch gegen Angehörige und Pflegende gemündet ist. Sehr oft wird das Problem Blasen- oder Darmschwäche in der Verzweiflung auch komplett negiert, was alle Symptome und Begleiterscheinungen so gut wie immer zusätzlich verschlimmert.
Der richtige und hilfreiche Umgang mit dem Problem „Inkontinenz“ erfordert nicht nur ein hohes Maß an Wissen und Erfahrung, sondern auch Motivation und Diskretion. Eine professionelle Kontinenzförderung orientiert sich dabei immer an den individuellen Fähigkeiten der inkontinenten Menschen und an den Zielen, die er/sie erreichen kann und möchte.
4. Neben der medizinischen Behandlung betonen Sie auch die Bedeutung psychosozialer Unterstützung für Betroffene. Warum ist es Ihrer Erfahrung nach so wichtig, diese Aspekte gleichermaßen zu berücksichtigen?
Durch eine Inkontinenz werden zahlreiche Bereiche des täglichen Lebens beeinträchtigt. Die Betroffenen schränken oft – aus Angst, unterwegs Harn zu verlieren – ihre Trinkmenge ein. Die Folgen sind eine verminderte Teilnahme am sozialen Leben und Isolierung. Darüber hinaus führt die Inkontinenz zu einer nicht unerheblichen finanziellen Belastung durch den Kauf von Inkontinenz- und Pflegemitteln.
5. Sie haben verschiedene Publikationen und Handbücher zur Praxis der Kontinenzförderung verfasst. Welche praktischen Tipps würden Sie Pflegekräften geben, um die Lebensqualität von Menschen mit Inkontinenz zu verbessern?
Wenn Pflegende mit Inkontinenz konfrontiert sind, ist profundes Wissen der beste Weg, um Hemmschwellen zu überwinden und eine bestmögliche Versorgung zu garantieren. Wer die verschiedenen Ursachen und Arten von Inkontinenz, Therapiemöglichkeiten und Hilfsmittel kennt, ist in der Lage, mit viel Verständnis für das Tabuthema Inkontinenz Betroffenen in ihrer nicht einfachen Situation zu helfen – und für eine Verbesserung ihrer Lebensqualität zu sorgen.
6. Als Mitglied im Beirat der Medizinischen Kontinenz Gesellschaft Österreichs sind Sie auch aktiv an der Weiterentwicklung der Fachkompetenz beteiligt. Welche aktuellen Trends oder Entwicklungen im Bereich der Inkontinenzversorgung finden Sie besonders vielversprechend?
Ich bin seit Oktober 2023 nicht mehr Mitglied des Beirats, stehe der Medizinischen Kontinenzgesellschaft Österreich aber immer noch zur Verfügung, um das Team bei Veranstaltungen zu unterstützen. Medizinische und pflegerische Entwicklungen auf dem Gebiet der Inkontinenzversorgung finden laufend statt, aber laut meiner Erfahrung sind es menschliche Qualitäten, wie Einfühlungsvermögen, Geduld und Zuhören, die Betroffenen im Umgang mit ihrer Situation helfen.
Mit entsprechenden Schulungen von Pflegefachkräften legt man zusätzlich zu allen pflegerischen Maßnahmen einen wichtigen Grundstein für eine wertschätzende und würdevolle Betreuung.
7. Welche Botschaft möchten Sie insbesondere an diejenigen Menschen senden, die mit Inkontinenz leben oder deren Angehörige, die nach Unterstützung suchen?
Inkontinenz ist kein Schicksal, das resignierend hingenommen werden muss! Suchen Sie professionelle Hilfe auf und Ihre Lebensqualität wird mit Sicherheit steigen! Holen Sie sich Ihr Leben zurück!