Experteninterviews
Experteninterview: Welchen positiven Einfluss kann die Ernährung auf Inkontinenz nehmen?
Personen mit Blasenschwäche sind nicht nur auf zuverlässig schützende Inkontinenz-Produkte, sondern auch auf alltagstaugliche Empfehlungen bezüglich eines gesunden Lebensstils angewiesen. Dabei spielt neben einer ausreichenden körperlichen Aktivität auch die Auswahl geeigneter Lebensmittel und Getränke eine entscheidende Rolle zur Unterstützung des Wohlbefindens.
1. Frau Teinert, Sie beraten in Ihrer Praxis vor allem Menschen mit ernährungsbezogenen Herausforderungen, häufig auch Krebspatienten, die durch ihre Erkrankung oder Therapie mit spezifischen Ernährungsproblemen konfrontiert sind. Welche Erfahrungen haben Sie in Ihrer Beratung mit Menschen gesammelt, die unter chronischen Beschwerden wie bspw. Inkontinenz leiden? Gibt es aus ernährungswissenschaftlicher Sicht Parallelen oder besondere Aspekte, die in diesem Zusammenhang beachtet werden sollten?
T. Teinert: Grundsätzlich gelten auch bei chronischen Beschwerden die allgemeinen Empfehlungen einer ausgewogenen, gesunden und bedarfsgerechten Ernährung der DGE (Deutsche Gesellschaft für Ernährung). Wie die Zusammensetzung des Diätplans dann in der Praxis konkret aussieht, hängt von der jeweiligen Symptomatik ab. Zusätzlich halte ich es für sehr wichtig, die individuellen Vorlieben, Bedürfnisse und mögliche Unverträglichkeiten zu berücksichtigen.
2. Welche allgemeinen Ernährungsempfehlungen geben Sie Menschen mit Inkontinenz, um eine Reizüberflutung der Blase zu vermeiden? Welche Lebensmittel und Getränke können den Harndrang diesbezüglich verstärken und sollten daher bewusst in Maßen konsumiert werden?
T. Teinert: Für Personen mit Inkontinenz ist es aus ernährungsphysiologischer Sicht grundlegend, über den Tag verteilt ausreichend zu trinken. Als Orientierung gilt eine Trinkmenge von 1,5 Litern – am besten in Form von Wasser oder ungesüßten Kräutertees. Zu den Empfehlungen, die ich Personen mit Blasenschwäche gebe, um eine Reizüberflutung zu vermeiden, gehören ein geringer Kaffeegenuss und das Meiden bzw. der weitestgehende Verzicht auf Alkohol und zuckerhaltige Getränke. Grünen und schwarzen Tee sollten Personen mit Inkontinenz ebenfalls nur in geringer bis moderater Menge konsumieren.
3. Wie beeinflusst die Flüssigkeitszufuhr die Symptome von Inkontinenz? Gibt es bestimmte Trinkgewohnheiten, die helfen können, den Harndrang zu regulieren?
T. Teinert: Leider hält sich der Irrglaube bei Personen mit Inkontinenz hartnäckig, dass „weniger trinken” mit „weniger Inkontinenz” gleichzusetzen ist. Eine ausreichende Flüssigkeitsaufnahme ist für das Wohlbefinden und die Gesundheit jedoch ein wesentlicher Baustein – allgemein und auch bei Blasenschwäche. Es kommt allerdings auf die richtige Auswahl an: Da größere Mengen an koffeinhaltigen Getränken wie Kaffee oder grünem bzw. schwarzen Tee den Harndrang verstärken können, lautet die Devise, Wasser zu bevorzugen und koffeinhaltige Getränke nur in geringer bis moderater Menge zu genießen – bis zu 3 Tassen am Tag.
4. Welche Rolle spielt die Darmgesundheit bei der Blasenfunktion und wie kann eine ballaststoffreiche Ernährung helfen, Beschwerden zu reduzieren?
T. Teinert: Weil sich Verstopfung durch einen erhöhten Bauchdruck negativ auf die Beschwerden bei Inkontinenz auswirken kann, ist eine ballaststoffreiche Ernährung in Kombination mit einer ausreichenden Flüssigkeitszufuhr und körperlicher Aktivität das A und O. Als Quellen für lösliche Ballaststoffe eignen sich unter anderem Möhren, Äpfel, Beeren, Erbsen und Kohlrabi.
5. Kann eine gezielte Ernährungsweise helfen, nächtlichen Harndrang zu reduzieren, sodass Betroffene besser schlafen können?
T. Teinert: Um eine erholsame Nachtruhe zu fördern und nächtliche Toilettengänge zu umgehen, halte ich es für sinnvoll, ungefähr ab 19.00 Uhr nichts mehr zu trinken – in Abhängigkeit von der individuellen Schlafenszeit.
6. Wie wirkt sich Übergewicht auf die Blasengesundheit aus und welche Ernährungsstrategien empfehlen Sie, um durch eine gesunde Gewichtsabnahme den Druck auf die Blase zu reduzieren?
T. Teinert: Da Übergewicht die Beschwerden bei Inkontinenz erhöhen kann, sollte der Ernährungsstil reflektiert und ungünstige, fett- und zuckerreiche Lebensmittel gemieden werden. Neben einer Ernährungsumstellung empfehle ich, die Bewegung zu erhöhen, um ein gesundes Körpergewicht zu erreichen.
7. Es gibt viele Ernährungstipps im Internet, z. B. zu Cranberrys oder Kürbiskernen. Welche dieser Tipps sind wissenschaftlich fundiert, und welche sind eher Mythen?
T. Teinert: Zu Nahrungsergänzungsmitteln und Lebensmitteln – beispielsweise zu Cranberrys oder zum Verzehr von Kürbiskernen, die beide die Blasengesundheit unterstützen sollen – liegen bisher keine evidenzbasierten Studienergebnisse bezüglich Inkontinenz vor. Es wird vermutet, dass D-Mannose positive Effekte auf die Blasenschleimhaut ausüben kann. Eine randomisierte klinische Studie konnte bisher allerdings nur belegen, dass D-Mannose zur Prävention von Harnwegsinfekten geeignet ist.¹
8. Wie können Betroffene im Alltag eine blasenfreundliche Ernährung umsetzen, auch wenn sie beruflich oder privat viel unterwegs sind?
T. Teinert: Berufstätige Personen können beispielsweise vegetarisches Essen und Milchprodukte in der Kantine bevorzugen. Gleiches gilt auf Reisen oder für Restaurantbesuche. Ich empfehle zusätzlich, im Rahmen einer blasenfreundlichen Ernährung scharfe Gewürze wie Chili oder Spargel zu meiden bzw. nur in geringer Menge zu verzehren.
9. Gibt es bestimmte Gewohnheiten oder Ernährungsfehler, die Betroffene oft unbewusst machen, obwohl sie sich eigentlich positiv auf ihre Blasengesundheit auswirken wollen?
T. Teinert: Wie bereits erwähnt, ist es zunächst wichtig, die Trinkmenge nicht in der Hoffnung zu reduzieren, dass die Beschwerden der Inkontinenz dadurch zurückgehen. Darüber hinaus sollten Personen mit Blasenschwäche – aus Angst vor Urinverlust bei Bewegung – keinesfalls auf körperliche Aktivität verzichten.
10. Viele Betroffene schämen sich häufig, über das Thema Inkontinenz zu sprechen. Wie kann die Ernährungsberatung helfen, Ängste und Unsicherheiten zu reduzieren?
T. Teinert: Zunächst ist es sinnvoll, Betroffene zu ermutigen, ehrlich über ihre Ängste und Unsicherheiten zu sprechen und zu betonen, dass es sehr viele Personen mit ähnlichen Beschwerden gibt. Darüber hinaus gebe ich Personen mit Inkontinenz weiterführende Tipps, die über die Ernährung hinausgehen – beispielsweise Beckenbodentraining oder Verzicht auf Nikotin.
¹ https://link.springer.com/article/10.1007/s00092-017-1570-y
